Der Lenz lässt grüßen
Wir schreiben den 20. März im sechsten Jahr des neuen Jahrtausends. Just vor ein paar Tagen schmolzen die letzten Spuren kristallisierten Wassers. Dann und wann sprießt allmählich das erste organische Material aus dem noch stark durchfrosteten Boden, hier und da schälen sich einzelne Individuen aus ihren wärmeisolierenden Schichten. Und in den Kalendern der Leute steht, warum. Frühlingsanfang.
So mancher verzweifelte schon, hatte schon Sorge, sehnte sich schon. Doch der Blick auf die Quecksilberkapillare bezeugt es. Zehn Grad Celsius. Zehn Grad mehr, als noch vor einer Woche! Der Frühling kommt spät, fast zu spät, daran zweifelt kaum einer. Selbst die schneeliebenden Hobbywintersportler freuen sich über die angenehmeren Temperaturen. Die grauen Gesichter, die düsteren Mienen, die kalten Gesichtszüge, sie werden heller, wärmer, freundlicher. Und die Sonne spielt das Spiel des Frühlings mit. Sie blendet die müden Augen und wärmt die steifen Glieder.
Wie schön es ist, die warme Luft tief in die Lungen zu pumpen, die sprießende Blümchen zu betrachten und die Sonne zu spüren, vergaß man in den letzten Monaten. Man verdrängte die Gedanken, um nicht zu verzweifeln, um den Winter zu ertragen. Nur, um wieder einmal zu merken, wie sehr man sich nach der neuen Jahreszeit sehnte - wie schon so oft.
Und doch, insgeheim glaubt man nicht an diesen Frühling. Oft schon wurde man betrogen. Oft schon freute man sich auf ihn. Oft schon war er gekommen. Und oft schon wieder dem Winter gewichen. Wo war die warme Luft, wenn es regnete? Wo war die entspannende Sonne, wenn es bewölkt war? Wo waren die weichen Gesichtszüge, wenn es eilte? Es ist Frühling. Doch was unterscheidet den Schnee an Ostern so sehr vom Schnee am dritten Februar, oder dem vom 15. Dezember? Was macht den Regen im April schöner als den im Januar?
Der Lenz ist gekommen. Er lässt euch alle grüßen! Lasst uns hoffen, dass er bleibt, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.
Frühlingsanfang.
Eduard Mörike - Er ist's
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!